Körnerpark
Neukölln auf Twitter Neukölln auf Facebook

Ausstellung: LINEAR MOMENTUM

« Zurück

Richard Rocholl, Fotografie  aus der Serie Autoland

5. November 2016 bis 22. Januar 2017

Künstlerinnen und Künstler: Simon Faithfull, April Gertler, Vanessa Henn, IEPE, Melanie Irwin, Pia Linz, plan b, p.t.t.red, Richard Rocholl und Sofie Thorsen

Kuratiert von Conny Becker

Die Ausstellung LINEAR MOMENTUM behandelt die Linie in ihrem Verhältnis zu unserer Bewegung im urbanen und ländlichen Raum. Sie nähert sich dem Thema weniger über die traditionell mit der Linie assoziierte Gattung der Zeichnung als vielmehr über performative Arbeiten sowie Wandmalerei, Skulptur, Fotografie und Video. Die Linie verweist als Verbindung zweier Punkte stets auf ihre mit Bewegung verbundene Genese. Auch das eine Linie verfolgende Auge vollzieht diese nach, was eine gewisse Zeitspanne in Anspruch nimmt und eine Bewegung des Auges oder Kopfes hervorruft. Temporalität und Bewegung sind der Linie inhärent und bilden die Folie, vor der die ausgewählten Arbeiten gesehen werden können. LINEAR MOMENTUM betrachtet die Linie somit aus einer zeitlichen und räumlichen; einer performativen Perspektive. (Abbildung: Richard Rocholl, Fotografie aus der Serie Autoland (2012–2014), C-Print, 24 × 34 cm)

April Gertlers Arbeit 9 Lifes bildet den Auftakt der Ausstellung und zieht die Betrachter*innen gleichsam in den Sog der Linien. Die Dimension und Intensität der kreisförmigen Arbeit führen unweigerlich dazu, dass sich ihr Gegenüber körperlich zu ihr verhalten muss. Für die ca. 3,50 m x 3,50 m große Wandzeichnung verwendet die amerikanische Künstlerin Schlagschnur und Kreide und bringt eine Methode, die gewöhnlich im Straßenbau verwendet wird, in den Ausstellungsraum.

In ihrer Diainstallation Tokyo March rekurriert Sofie Thorsen auf Zeichnungen, die der japanische Modernist Kenkichi Yoshida 1930/31 geschaffen hat. Sie zeigen die modernen Fassaden des Geschäfts- und Vergnügungsviertels Ginza in Tokyo, von denen Thorsen bei ihrer Recherche vor Ort auch Fotografien fand. Beide historische Bildquellen kombiniert sie mit monochromen Farbdias, welche eine imaginative Annäherung an die ursprüngliche Farbigkeit der Gebäude ermöglichen. Durch die Überblendung der Diapositive wird die Architektur in Bewegung gesetzt; man scheint der Umrisslinie der Zeichnung folgen zu können.

Simon Faithfull prüft in 0o00 Navigation den Nullmeridian auf seine Alltagskompatibilität und folgt dieser konstruierten Linie mithilfe von GPS-Geräten durch Hampshire, London, den Midlands und Lincolnshire exakt in Richtung Norden. Die Videoarbeit dokumentiert diese physische Reise des Künstlers und ist häufig humorvoll, z.B. wenn der Künstler in seinem Bestreben, der Linie zu folgen, über Hindernisse steigt oder durch einen Fluss schwimmt. Bei Going Nowhere bestand der Ausgangspunkt darin, „die Abwesenheit zu beobachten und zu prüfen, ob die Welt während dieser Abwesenheit weiterexistiert.“ Faithfulls kindlich-naive Aktion gibt Anlass zu existenzphilosophischen bzw. phänomenologischen Überlegungen, zeigt aber auch konkret die Spur einer menschlichen Bewegung im Raum.

Die Videodokumentation einer öffentlichen Aktion Melanie Irwins hält fest, wie die Künstlerin mit einer kleinen Kamera Tramkabel dokumentiert, die sich über ihr befinden, während sie die Straßen des frühmorgendlichen Berlins abschreitet, – sich periodisch hinhockend und dem aufkommenden Verkehr ausweichend. In Terminus Loop diktiert eine vorgegebene Linie ihren Pfad und so feiert die Arbeit die körperliche Anpassungsfähigkeit gegenüber den von Außen einwirkenden Kräften, Hindernissen und Ereignissen. Zur Eröffnungsperformance The Appendages (Anhängsel) tragen die Performer*innen den Abend über linienförmige, gefundene und modifizierte Metallobjekte, die Irwin jeweils unifarben pulverbeschichten ließ, wie ein Accessoire am Körper. Temporär entstehen, so Irwin, „großformatige monochrome, raumzeitliche Linienzeichnungen aus zahlreichen unverbundenen skulpturalen Fragmenten, die auf Körper angewiesen sind, die sie herumtragen.“

Richard Rocholl fotografierte für die Serie Autoland alte Alleen in der Berliner Umgebung im Stil einer klassischen Alleendarstellung. Die historischen Landstraßen werden jedoch von einer „effizienteren“ Autobahn durchtrennt und sind verwildert. Die sich dadurch ergebende romantische Note wird durch Rocholls Arbeitsweise verstärkt: Er nimmt sein Motiv tagsüber mit einem Teil der normalen Belichtungszeit auf, um in der Dämmerung das Licht vorbeifahrender Autos hinzuzufügen. In der Summe ergibt sich ein unwirklicher Moment, kreiert aus zeitlich auseinander liegenden Augenblicken, die jeweils ihre Spuren in der analogen Aufnahme hinterlassen.

Ganz konkret hat IEPE im Sommer 2010 in den Stadtraum gezeichnet. Vielmehr ließ der niederländische Künstler Painting Reality von einer „anonymous crew“ ausführen, die auf Fahrrädern, mit Farbeimern bestückt, über die Kreuzung des Rosenthaler Platzes in Berlin fuhr und nacheinander an den vier Ampeln gelbe, blaue, rosa und lila Farbe auf die mehrspurige Straße kippte. Für die eigentliche Zeichnung bezog der Künstler die zahlreichen Fahrzeuge ein, die die Kreuzung in eine abstrakte Pastellzeichnung auf Asphalt zu verwandeln schien.

Pia Linz schafft in ihren Zeichnungen aus Linien und realen Orten eigenständige Universen. Ihre Arbeitsweise ist wie bei Körnerpark aufs Engste mit der Bewegung verbunden. Zunächst vermisst sie das ausgewählte Gelände mit Fußschritten, um einen genauen Flächenplan zu erstellen. Mit diesem „Plangewebe“ (Linz) als Grundlage ihrer Zeichnung kehrt die Künstlerin über mehrere Monate fast täglich in die neo-barocke Parkanlage zurück. In kleineren, gefalteten Abschnitten hält sie ihre sensiblen Beobachtungen fest, die ebenso visuell wie akustisch oder olfaktorisch sein können.

Vanessa Henn arbeitet mit alltäglichen semiarchitektonischen Gegenständen, deren Funktion darin besteht, die Bewegung von Menschen zu lenken. Auf spielerische Weise transformiert die Künstlerin für Bumping Into Pleasure Treppenhandläufe im Stil der 1960er-Jahre in ein absurdes Labyrinth, das nun nicht mehr unseren Körper, als vielmehr unseren Intellekt zum Herumschweifen einlädt. Ihrer Funktion enthoben und in einem Ausstellungsraum neu kontextualisiert, treten Henns Geländer als enigmatische Objekte in Erscheinung, während ihre Pendants im Alltag meist ausgeblendet werden. So etwa die aus Sanitäranlagen bekannten Haltegriffe, welche die Künstlerin bei Panorama in eine Felsenbucht transferiert, indem sie sie mit einer wandgroßen Fotografie zu einer Assemblage verschmilzt.

Für sein laufendes Projekt The Drawing of Our Lives hat plan b (Daniel Belasco Rogers und Sophia New) seit 2003 bzw. 2007 jeden Gang aus dem Haus mit einem GPS-Gerät aufgezeichnet. Die digitalen Daten interpretiert das Duo in analogen Materialien, im Fall von All Our Traces in Berlin 2011 mithilfe von Lasergravur. So werden eine ausgewählte Zeitspanne und ein oder mehrere Orte in eine Zeichnung übersetzt und es entsteht eine sehr individuelle Kartografie. Drawing Machine II ist eine von Belasco Rogers gebaute analoge Zeichenmaschine, die er an seinen Körper binden kann und die alle Bewegungen auf Papier festhält. Während in den GPS-basierten Zeichnungen insbesondere die notwenigen Routen des Alltags in den Vordergrund treten, so zeichnet der Künstler hier ein neo-situationistisches Dérive, ein zielloses Umherschweifen auf, das zu einem völlig abstrakten Ergebnis führt.

In Berlin weckt das Thema der Ausstellung unwillkürlich Assoziationen zur Berliner Mauer. Der Trennungswall hat das Kreuzberger Künstlerduo p.t.t.red (paint the town red) zu zahlreichen Arbeiten inspiriert. So stellten die Künstler Stefan Micheel und Hs Winkler mit dem Projekt 23½ Karat – goldener Schnitt durch Berlin der politischen Teilung eine ästhetische gegenüber. Sie überzogen im Sommer 1988 im Westteil der Stadt vier auf einer Linie liegende Stahlbauelemente mit Blattgold und ergänzten 1990 eine vergoldete Kreuzverstrebung an der Greifenhagener Brücke im vormals abgetrennten Osten. Die subtile Poetisierung des Alltags erhielt somit erneut eine politische Dimension.

Für LINEAR MOMENTUM begab sich Stefan Micheel auf die Spuren dieser Intervention im Stadtraum und dokumentiert die vergoldeten Trägerelemente, die bis auf einen Lagerblock an der Bahnbrücke am Landwehrkanal weiterhin existieren. In der Gegenüberstellung von 3D-Ansichten und einem Video im Zeitraffertempus hebt er neben der räumlichen auch die zeitliche Ebene der Intervention hervor. Die ortspezifische Arbeit von p.t.t.red hat Fixpunkte im Stadtraum über einen Zeitraum von fast 30 Jahren geschaffen.

BEGLEITPROGRAMM

Eröffnung
Freitag, 4. November 2016, 18 Uhr – Mit der Performance The Appendages von Melanie Irwin

Lecture-Performance und Buchvorstellung
Donnerstag, 24. November 2016, 19 Uhr
Das Künstlerduo plan b spricht anhand ausgewählter Beispiele über ihr laufendes Projekt The Drawing of Our Lives, bei welchem es jeden Gang aus dem Haus per GPS aufzeichnet und so eine individuelle Kartografie betreibt.
Richard Rocholl stellt sein neu erschienenes Künstlerbuch Autoland vor.

Führungen mit der Kuratorin
Samstag, 19. November 2016, 17 Uhr
Samstag, 14. Januar 2017, 17 Uhr

Finissage mit Konzert
Samstag, 21. Januar 2017, 19 Uhr
Die Songs von AFTERMARS führen von romantischem Synthie-Pop über pochendes Electro-Noise bis zu Metal und Acid-Jazz, mit permanentem Drang zum Leichtsinn. Sébastien Brault / Gesang und Keyboard, Thomas Jocher / Trompete und Tom Früchtl / Gitarre.

Führungen jeden Sonntag, 15 Uhr

LINEAR MOMENTUM in der Galerie im Körnerpark ist die erweiterte Version der gleichnamigen Ausstellung im Projektraum TCB art inc. in Melbourne / Australien. Der dort erschienene zweisprachige Katalog mit vierfarbigen Abbildungen sowie einem Essay der Kuratorin wird für die Galerie im Körnerpark mit Texten zu den hinzugekommenen fünf Künstler*innen ergänzt.

Mit freundlicher Unterstützung der Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Ausstellungsfonds Kommunale Galerien

Das Projekt wird von der australischen Botschaft, Berlin und dem Danish Arts Council, Kopenhagen gefördert und von der Humboldt-Universität zu Berlin unterstützt.